Behinderte Geflüchtete in Deutschland

von Dr. Kenan Engin

Datenlage

Die steigende Anzahl der Menschen auf der Flucht nach Deutschland hat einen deutlichen Anstieg von Geflüchteten mit körperlicher bzw. seelischer Behinderung, chronischer Krankheit, sowie
Traumata zur Folge.

Trotz dieser Zunahme von behinderten Geflüchteten liegen keine konkreten Zahlen und Fakten vor, da sowohl das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) als auch Länder und Kommunen bei der Registrierung von Flüchtlingen keine systematische Erhebung von Behinderungen oder Menschen mit Beeinträchtigung vornehmen. Auf eine Kleinanfrage am 10.03.2016, ob die Bundesregierung plant, den Status von geflüchteten Menschen mit Behinderung gesondert zu erheben, antwortete die Bundesregierung, dass eine solche Erhebung durch die Bundesregierung nicht geplant sei (Deutscher Bundestag 2016, S.5f.). Demzufolge gibt es lediglich Schätzungen, wonach die Zahl der Geflüchteten mit Behinderung zwischen 10 und 40 Prozent vermutet wird (Aktion Mensch 2016; Chladek 2014; Szardning 2014). Laut einer Studie vom Bayerischen Staatsministerium und der LMU München, liegt die Traumatisierungsrate unter den erwachsenen Flüchtlingen bei über 30 Prozent (Butollo, Maragkos 2012). Welche Schwere der Traumatisierung als Behinderung einzustufen ist, bleibt hier jedoch zunächst unbeantwortet.

Leistungsansprüche

Die sich im Asylverfahren befindenden Geflüchteten haben Zugang zu Sozialleistungen über das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Hier sind die Ansprüche vor allem auf die medizinische
Versorgung gemäß §4 AsylbLG sehr eingeschränkt. So Artikel 4: „Zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sind die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu gewähren.“ (§4 AsylbLG). Daraus lässt sich ableiten, dass behinderte Asylsuchende zunächst kein Anrecht auf Hilfen in besonderen Lebenslagen nach SGB XII haben.

Medizinische Versorgung

Geflüchtete mit Behinderung sind im asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren einer Vielzahl spezieller Schwierigkeiten konfrontiert. Vor allem das Ausbleiben einer bundesweiten einheitlichen
Vorgehensweise im Hinblick auf den Leistungsanspruch als der Durchführung von Untersuchungen erschwert die adäquate medizinische Versorgung von Geflüchteten mit Behinderung. Außerdem kann ein großer Teil der Betroffenen aufgrund u.a. des Sprachdefizits, sozialkultureller Hemmnisse, komplizierter Gesetzeslage und mangelnder Aufklärung über den Ablauf der Antragstellung keine Hilfe in Anspruch nehmen. Diese Aspekte verhindern die frühzeitige Teilhabe dieser Menschen am Leben in Deutschland, was längerfristig zu finanziellen Mehrkosten für das Gesundheitssystem führen kann.

Unterbringung

Die Unterbringung von Geflüchteten erfolgt nach dem Königsteiner Schlüssel.Gemäß diesem werden die Flüchtlinge vorerst sogenannten „Erstaufnahmeeinrichtungen“ (EAE) der zuständigen
Kommune zugewiesen. Während die Kriterien wie Religion und Herkunftsland beim Verteilungssystem berücksichtigt werden, finden chronische Erkrankungen und körperliche Behinderungen sehr selten eine Berücksichtig. Beispielsweise in den Ländern Nordrhein-Westfalen, Hamburg oder Berlin spielt die Behinderung bei der Zuweisung der Geflüchtete in die EAE eine untergeordnete Rolle.
Beim Gesundheitscheck in den EAE des Landes untersucht man zwar auf ansteckende Krankheiten, nicht aber auf eine besondere Schutzbedürftigkeit (Hamburger Senat 2016), sodass nicht so selten auch Rollstuhlfahrer und andere Behinderte in Turnhallen landen.
Eine Untersuchung der Pro Asyl, in der u.a. unterschiedliche Aufnahme- und Unterbringungssysteme der Bundesländer miteinander verglichen und Regelungen für besonders schutzbedürftige
Flüchtlinge herausarbeitet wurden, ergab, dass die Defizite des Unterbringungssystems in jedem Land zu beobachten sind. In den Ländern Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein gab es zur Zeit der Erstellung des Berichtes keine Regelung bzgl. der Unterbringung von behinderten Geflüchteten (Wendel 2014, S. 58ff.).
Baden-Württemberg ist das erste Land, das nach der EU-Aufnahmerichtlinie im Jahr 2013 eine klare Regelung bzgl. der Unterbringung besonders schutzbedürftiger Geflüchteter traf: „Bei der Ausführung dieses Gesetzes berücksichtigen die Aufnahmebehörden die besonderen Belange schutzbedürftiger Personen im Sinne des Artikels 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments […] (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 96)“ (BWÜ: §5 FlüAG BW).

Als Folge dessen nutzen Geflüchtete mit Behinderung unterschiedliche formelle und informelle ehrenamtliche Unterstützungssysteme wie beispielsweise Netzwerke, Migrantenselbstorganisationen oder Familie und Bekannte, um die Herausforderungen zu bewältigen.

Zusammenfassung

Aufgrund der Erfahrungen von Krieg, Vertreibung und Gewalt im Herkunftsland werden Menschen auf der Flucht schwer belastet und nicht wenige davon erleiden dadurch eine Traumatisierung. Dazu kommen noch körperliche Behinderungen und chronische Erkrankungen. Wenn die Bewältigungsmechanismen eines Geflüchteten erschöpft sind und keine nötigen Versorgungsstrukturen da sind, können sich psychische Störungen und klinische Traumata entwickeln, körperliche Behinderungen und chronische Erkrankungen verschlechtern, was schwerwiegende Folgen für Betroffene hat.
Deswegen ist es wichtig, den behinderten Geflüchteten nach ihrer Ankunft in Deutschland schnell ein sicheres und stabiles Umfeld zu ermöglichen, um seelische und körperliche Verletzungen abzufedern und zur psychischen und physischen Stabilisierung der Betroffenen beizutragen.

Der Beitrag wurde im Rahmen des Forschungsprojektes „Flucht und Bildung“ des Bonner Instituts für Migrationsforschung (BIM) verfasst.

Literatur

Aktion Mensch. 2016.: Flüchtlinge und Behinderung..
Butollo, Willi, Maragkos, Markos. 2012.: Gutachterstelle zur Erkennung psychischer Störungen bei Asylbewerbern. München.
Chaldek, Karin. 2015.: Behindert auf der Flucht. In: leidmedien.de, Zugegriffen: 21. Juli 2016.
Deutscher Bundestag. 2016.: Deutscher Bundestag Drucksache 18/7831 18. Wahlperiode 10.03.2016.
EU. 2003.: RICHTLINIE 2013/33/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Juni 2013.
BWÜ: Flüchtlingsaufnahmegesetz - FlüAG. 2013.: Gesetz über die Aufnahme Flüchtlingen. 19. Dezember 2013.
Hamburger Senat. 2016.: 21. Wahlperiode. Große Anfrage. 10.02.16. Drucksache 21/3203, 08.03.16.
KBV. 2015.: Stellungnahme der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vom 24. September 2015.
Szardning, Antje. 2014.: Flüchtlinge mit Behinderung „Medizinische Versorgung“ in Berlin! In: Berliner Behinderten Zeitung.
Wendel, Kay. 2014.: Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland. Regelungen und Praxis der Bundesländer im Vergleich. Hg. Förderverein PRO ASYL e. V. Frankfurt am Main.

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** Gefördert als spezifische Maßnahme im Rahmen der KOMM-AN NRW III Projekte durch die Landesregierung NRW; in Kooperation mit der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e.V.

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